Welches Europa wollen wir?
Veranstaltungsreihe in Bozen, Frühjahr 2017Die Schuldenkrise seit 2008, die Eurokrise, die Terrorkrise, dann noch die Brexit-Entscheidung 2016: die EU befindet sich im Dauerkrisenmodus und verliert an Rückhalt bei den BürgerInnen. Ist das politische Projekt "Europäische Union" gescheitert und muss es einem neuen Zeitalter der Nationalstaaten weichen? Rund um solche Fragen kreisen acht "Politis-Gespräche" in diesem Frühjahr in Bozen. Hier das Programm.
Ethnisches Mosaik Europa
Die Bewahrung der sprachlich-ethnischen Vielfalt und der Sprachminderheiten als permanente Gestaltungsaufgabe EuropasMit Günther Rautz (EURAC) und Thomas Benedikter (POLITiS), Moderation: Prisca Prugger
Dienstag, 6.6.2017, 18-20 Uhr
Bibliothek Kulturen der Welt
(Bozen, Schlachthofstr. 50)
In Europa gibt es 150 Sprachen und mindestens 270 ethno-linguistische Minderheiten. Jeder größere Staat Europas hat Minderheiten dieser Art. Dazu kommen „neue Minderheiten“ in Form der Millionen Migranten, die seit Generationen vor allem in die EU zugewandert sind und ihre Kulturen und Religionen mitgebracht haben. Auch die religiöse Vielfalt in Europa wächst, damit auch neue Reibungen und Herausforderungen.
In einigen Regionen wie Südtirol, Baskenland, Deutsch-Belgien ist auch dank Territorialautonomie ein vorbildlicher Minderheitenschutz aufgebaut worden, andere Regionen streben aus ihrer Geschichte und nationalen Eigenart heraus Eigenstaatlichkeit an. Andererseits werden zahlreiche Minderheiten noch diskriminiert und sind gar bedroht. Wie steht es um Europas Minderheiten? Wie haben sich die rechtlichen Schutzinstrumente auf nationaler und internationaler Ebene bewährt? Kann Territorialautonomie verstärkt angewandt werden? Welcher Umgang mit den neuen Minderheiten? Wie wird die sprachliche Vielfalt innerhalb der EU in Zukunft gewahrt?
Die Strahlkraft der Nationalstaaten und die Schwäche des „Europa der Regionen“
Katalonien, Schottland, Flandern, Südtirol: Europas künftige neue Staaten?Eine Diskussion mit Simon Constantini (Brennerbasisdemokratie) und Stefan Premstaller (Junge Generation der SVP). Moderation: Thomas Benedikter
Dienstag, 16.5.2017, 18-20 Uhr,
Bibliothek Kulturen der Welt,
Bozen, Schlachthofstr. 50
2017 wird Katalonien in einer offiziellen Volksabstimmung über seinen Verbleib in Spanien oder die Eigenstaatlichkeit entscheiden. 2014 hatte Schottland nur knapp gegen die Unabhängigkeit gestimmt, doch nach dem Brexit-Votum von 2016 hat Großbritannien selbst eine Art „Sezession“ von der EU eingeleitet. So drängt die schottische Mehrheitspartei auf ein neues Referendum. Auch in Flandern gibt es starke Bestrebungen für Eigenstaatlichkeit genauso wie in Südtirol. Immerhin fast 27% der Südtiroler wählten 2013 Parteien, die die Selbstbestimmung fordern.
Welchen Sinn machen neue Staaten in einem zusammenwachsenden Europa? Gerade der Rahmen der EU scheint die friedliche Neubildung von Staaten zu erlauben, doch wollte die Integration Europas nicht die Nationalstaaten überwinden? Welche Wirkungen hat Sezession auf die europäische Staatenwelt, wie wird die EU ihrerseits auf neue Staaten reagieren? Was unterscheidet die Bemühungen einzelner alter Nationen, wieder unabhängig zu werden, vom neuen Nationalismus der EU-skeptischen Bewegungen und Rechtspopulisten?
Ist das Integrationsprojekt EU gescheitert?
Das wachsende Unbehagen an der Europäischen Union und die politischen FolgenEine Diskussion mit dem ehem. L.Abg. Pius Leitner (Die Freiheitlichen)
und Georg Schedereit (Journalist)
Moderation: Thomas Benedikter
Dienstag, 2.5.2017, 18-20 Uhr,
Bozen, Bibliothek Kulturen der Welt (Schlachthofstr. 50)
Am 23. April 2017 sind Marine Le Pen und Emmanuel Macron in die Stichwahl der französischen Präsidentschaftswahl gelangt, die Chefin des Front National hat immerhin 21% der Stimmen errungen. Die AfD könnte 2017 im deutschen Bundestag die drittstärkste Fraktion werden, Norbert Hofer ist in Österreich nur knapp unterlegen, die Lega Nord ist unter Matteo Salvini im Aufwind. Im Vereinigten Königreich war die nationalistische UKIP mit dem Brexit 2016 erfolgreich, in Finnland die „Wahren Finnen“. Für sog. „rechtspopulistische“ Parteien ist die EU in ihrer heutigen Verfassung oft ein Feindbild, wird als Spielfeld etablierter Parteien und als Kartell bürgerferner Bürokraten und Konzernlobbys gesehen, als unfähig, wichtige Fragen europäischer Politik zu lösen. Flüchtlinge, Schulden, Arbeitslosigkeit und andere Krisen: für einen wachsenden Teil der Europäer, die euroskeptische Parteien wählen, scheint der nationale Rückzug der einfachste Ausweg: Wir treten aus der Gemeinschaft aus und kehren zum Nationalstaat zurück und alles wird besser. Ein illusorisches Versprechen? Werden dem Brexit weitere Austritte folgen? Was bedeutet ein „Europa der Völker“?
Auch in Südtirol sehen z.B. die Freiheitlichen die EU in diesem Licht und unterstützen EU-skeptische Kräfte im EU-Parlament. Mit dem langjährigen Obmann der Freiheitlichen und Kandidaten fürs EU-Parlament Pius Leitner und dem Journalisten und früheren EP-Kandidaten Schedereit gehen wir auf solche und zusammenhängende Fragen ein.
Europa kann nicht bleiben, was es ist
Auswege aus der europäischen KriseEin Abend mit Prof. Roland Benedikter
Dienstag, 18.4.2017,
20 Uhr, Bozen, Kolpinghaus
Die EU als Ganzes, wenn man alle 27 EU-Mitgliedsländer einbezieht, ist nach wie vor der wirtschaftsstärkste Raum der Welt. Er ist vor allem der gesellschaftlich am besten ausgewogene, sozial balancierteste und der unter Friedens-, Ausgleichs- und Rechtsgesichtspunkten weitestentwickelte multinationale Raum der Welt. Wenn die Schulden und die fehlende Einheit nicht zusammenwirken würden, könnte die Krise in einem so hoch entwickelten Raum nicht so lange andauern.
Die Währungsunion ohne politische Union führt zu wachsenden inneren Gefällen und Abhängigkeiten. Nicht das Ausmaß der Verschuldung einiger Euroländer ist ausschlaggebend, sondern die fehlende Vertrauens- und Solidaritätsgrundlage. Entweder es wird die Währungsunion mit der politischen Union vervollständigt, so Roland Benedikters These, oder die Währungsunion wird scheitern.
Benedikter plädiert für eine europäische „Zivilreligion“ als eine Art säkularer Glauben an eine Einheit in Freiheit. Wenn es diese nicht gibt, fehle das innere Leben der Einheit. Europa ist immer noch stärker durch nationale Gründungsmythen und Identitätsmuster bestimmt, kaum durch gemeinsam europäische. Wie finden die Europäer zu einer solchen Haltung? Wie schafft die EU den Ausweg aus der Krise?
Roland Benedikter hat seit 2008 mehrere vielbeachtete Analysen zur europäischen Finanz- und Schuldenkrise sowie zum Bild Europas in der Welt veröffentlicht und gilt als ausgewiesener Kenner der europäischen Entwicklung aus internationalem und multidisziplinärem Gesichtspunkt. Zur kurzen Einstimmung ein aktueller Kurzbeitrag an der LSE London School of Economics.
Prof. DDDr. Roland Benedikter, Politikwissenschaftler und Soziologe, ist seit 2017 Global Futures Scholar an der EURAC Bozen, seit 2015 Research Professor für Multidisziplinäre Politikanalyse am Willy Brandt Zentrum der Universität Wroclaw-Breslau, seit 2017 Research Affiliate an der Stanford University. Von 2008 bis 2015 war er Research Scholar an der University of California, Santa Barbara. 2009-13 war er Europäischer Stiftungsprofessor für Politische Analyse in residence an der University of California, Santa Barbara und VResearch Affiliate an der Stanford University.
Wo bleibt die Seele Europas?
Der neoliberale Markt und ein aufkeimender Nationalismus gefährden Europa.Eine Diskussion mit ex-MdEP Sepp Kusstatscher (Die Grünen), Moderation: Thomas Benedikter
Dienstag, 4.4.2017,
18-20 Uhr,
Bozen, Bibliothek Kulturen der Welt (Schlachthofstr.50)
Das einmalige Friedensprojekt nach den zwei katastrophalen Weltkriegen war die EWG, die zur EG und schließlich zur EU wurde, sozusagen zu einer politischen Union. Allerdings verhinderten neoliberale Kräfte und die Nationalstaaten Europas, dass in diesem Reformprozess aus der Europäischen Union sich wirklich „Vereinigte Staaten“ entwickeln konnten.
Die Handelsmacht EU ist Täter und Opfer einer neoliberalen Marktideologie geworden. Nur dank des breiten Widerstands in einigen EU-Ländern ist das Abkommen CETA mit Kanada vorübergehend, das TTIP mit den USA vielleicht ganz aufgehalten worden. Der Freihandel, basierend auf bi- und multilateralen Abkommen, ist der Wegbereiter der Globalisierung. Als weltstärkste Handelsmacht betreibt die EU die Liberalisierung des Welthandels und die Sicherung der Rohstoff- und Absatzmärkte als ihr Kerngeschäft. Doch immer mehr zeigen sich die Schattenseiten der neoliberalen Entgrenzung der Märkte.
Auf diesem neoliberalen Trümmerhaufen, in welchem die wenigen Reichen reicher und die vielen Armen ärmer werden, wachsen Unzufriedenheit und Ängste vor einem sozialen Abstieg. Angst ist die stärkste Emotion, die rationale Lösungen erschwert und entsolidarisiert. Diese Angst wird von populistisch agierenden Nationalisten missbraucht, die als Lösung nationalstaatliche Schrebergärten mit hohen Zäunen anpreisen. Nigel Farage, Marine Le Pen, Matteo Salvini, Viktor Orbán und Jaroslaw Kaczynski sind nur einige Namen von Politikern, die Europa als multikulturelles Friedensprojekt gefährden. Wie kann man dieser Bedrohung von rechts begegnen? Welche Werte braucht Europa als Grundlage seiner Einheit? Wo bleibt Europas Seele?
Hat der Euro ausgedient?
Bilanz und Ausblick nach 16 Jahren GemeinschaftswährungEine Diskussion mit L.Abg. Paul Köllensperger (5-Sterne-Bewegung)
Moderation: Thomas Benedikter
Dienstag, 21.3.2017,
18-20 Uhr, Bozen,
Bibliothek Kulturen der Welt (Schlachthofstr. 50)
Nach dem Start 2001 hat der Euro in der Finanz- und Schuldenkrise 2009/10 seine Bewährungsprobe erlebt. Mehrere Euroländer gerieten in eine bedrohliche Schuldenkrise, auch Italien. Unter dem Druck des internationalen Finanzmarkts war mit den Banken und Staatshaushalten auch der Euro gefährdet. Hunderte Milliarden an Haushaltsmitteln wurden für die Stabilisierung hochverschuldeter Euroländer aufgewandt, systemrelevante Banken mussten mit Steuermitteln gerettet, die Finanzmärkte mühsam beruhigt werden. Das am schwersten getroffene Euroland, Griechenland, ist einem rigiden Sparprogramm unterworfen, um „im Euro zu bleiben“. Die EZB, die EU, die Euroländer haben auf die Krise reagiert, dennoch wird der Euro immer mehr in Frage gestellt. Auch in Italien rufen politische Kräfte nach einer Reform oder gar nach dem Ausstieg aus dem Euro. Welche Schwächen, welche Fehler hat die Konstruktion dieser Gemeinschafts-währung? Ist der Moment gekommen, dass die wichtigsten Länder der Eurozone die Initiative ergreifen und einen harten Kern der EU gründen, um die Integration voranzubringen? Soll Italien gar aus dem Euro aussteigen?
Europa und der Islam
Der europäische Islam zwischen Dschihadistengewalt und IntegrationAdel Jabbar, Soziologe
Thomas Benedikter, Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler
Moderation: Mauro di Vieste
Dienstag, 7.3.2017
18-20 Uhr
Bozen, Bibliothek
Kulturen der Welt
Von Islamisten verübte Terroranschläge, das Wüten des „neuen Kalifats“ IS im Nahen Osten und zahllose andere islamistisch motivierte Gewaltakte haben in Europa das neue Feindbild Islam befeuert. Die Gewaltbereitschaft unter europäischen Dschihadisten,
die Diskriminierung von Frauen und das fragwürdige Verhältnis zur Demokratie haben den Islam unter Generalverdacht gestellt, mit europäischen Werten und Kultur nicht vereinbar zu sein. Die Kritik am Islam richtet sich sowohl gegen die ideologischen Instrumentalisierung der Religion in der Auseinandersetzung mit dem Westen, als auch gegen den Islam selbst, und wächst sich zu offener Islamophobie aus, auch in Südtirol. Politische Bewegungen rufen zur Verteidigung von europäischer Kultur und Werten, erklären den Notstand fürs „christliche Europa“ und betrachten den Multikulturalismus und die Toleranz für gescheitert. Doch ist der Islam nicht schon längst Teil Europas? Wie soll die Gesellschaft Europas mit dem Islam umgehen? Was erwarten wir uns von einem europäischen Islam? Wie steht es mit dem Verhältnis Europas zur islamischen Welt?
EUROPA
ZWISCHEN WILLKOMMENSKULTUR
UND ABSCHOTTUNG
Die europäische Asylpolitik und neue MigrationsbewegungenLeonhard Voltmer, Asylrechtsexperte und Migrationsforscher
Khemais Ali, Jurist und Kommunikationswissenschaftler
Moderation: Claudio Campedelli
Dienstag, 14.2.2017
18-20 Uhr
Bozen, Bibliothek
Kulturen der Welt
Europa, vor allem Westeuropa, ist jährlich Ziel hunderttausender Flüchtlinge und Migranten. 2016 sind in Italien 181.000 Migranten angekommen, neuer Rekord. Doch die Mehrheit von ihnen wird in Italien kein Asyl erhalten. Auch die in der EU vereinbarte Verteilung der Asylbewerberinnen nach Länderquoten funktioniert nicht. Osteuropäische Länder weigern sich strikt, Zuwanderer aufzunehmen. Derweil hat das EU-Türkei-Abkommen die erwünschte Wirkung gehabt und den Flüchtlingszustrom über die Balkanroute stark eingebremst. Ein Modell für zukünftige Lösungen? Die EU will die Zuwanderung in geregelte Bahnen lenken, doch das neue Asylrecht kommt nicht vom Fleck. Wie viel Zuwanderung verträgt Europa? Wie kann ein für Flüchtlinge faires, aber auch funktionierendes Asylrecht beschaffen sein? Welche Legitimation haben Obergrenzen? Wird Europa noch mehr zur Festung und setzt damit Grundrechte aufs Spiel? Auf diese und weitere mit der Migration nach Europa zusammenhängende Fragen gehen wir an diesem Abend ein.